Zum Hauptinhalt springenSkip to page footer

Wenn Nervenzellen untergehen: Erlanger Expertise seit über 130 Jahren

Wenn Nervenzellen untergehen: Erlanger Expertise seit über 130 Jahren

Symposium würdigt Adolf von Strümpell – Pionier auf dem Gebiet der seltenen Erkrankung HSP

Schätzungsweise nur 4.000 Menschen in ganz Deutschland haben sie: die Hereditäre Spastische Spinalparalyse (HSP), eine seltene Form der erblichen Querschnittslähmung. In Erlangen wird die neurodegenerative Erkrankung, die mehr als 70 Unterformen hat, seit über 130 Jahren erforscht und behandelt. Heute finden Patientinnen und Patienten in der Molekular-Neurologischen Abteilung (Leiter: Prof. Dr. Jürgen Winkler), in der Stammzellbiologischen Abteilung (Leiterin: Prof. Dr. Beate Winner) sowie am Zentrum für Seltene Erkrankungen Erlangen bzw. am Zentrum für Seltene Bewegungserkrankungen des Uniklinikums Erlangen Anlaufstellen mit viel Erfahrung. Im Rahmen eines internationalen wissenschaftlichen Symposiums vom 6. bis 8. März 2024 brachten sich nun verschiedene Expertinnen und Experten am Uniklinikum Erlangen auf den neuesten Stand zu Diagnostik und Therapie der seltenen Erkrankung. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Tom-Wahlig-Stiftung, die HSP-Forschungsprojekte fördert und betroffene Familien unterstützt, und dem TreatHSP-Konsortium – einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten bundesweiten Zusammenschluss von HSP-Spezialistinnen und -Spezialisten – statt.

Die Hereditäre Spastische Spinalparalyse wird vererbt, sodass häufig mehrere Familienmitglieder betroffen sind. Meist beginnt die Erkrankung schon während der Schulzeit, wird aber oft jahrelang nicht erkannt. Die Beinmuskeln der Betroffenen werden zusehends steif und die Beine verlieren aufgrund einer spastischen Lähmung an Kraft. Grund dafür ist der Niedergang bestimmter Nervenzellen im Zentralen Nervensystem, die eine wichtige Rolle bei der Steuerung willkürlicher Bewegungen spielen. Auch Blasenstörungen, Krampfanfälle, Taubheitsgefühle, kognitive Einschränkungen, Gleichgewichts-, Seh- und Sensibilitätsstörungen sind bei der HSP möglich. Der Gang wird unsicher und „gestelzt“. „Letztlich verlieren die Patientinnen und Patienten ihre Gehfähigkeit und sind im weiteren Verlauf auf Gehhilfen oder einen Rollstuhl angewiesen“, erklärt Prof. Dr. Jürgen Winkler, Sprecher des Zentrums für Seltene Bewegungserkrankungen des Uniklinikums Erlangen.

Adolf von Strümpells Erstbeschreibung der HSP in Erlangen

Im Jahr 1886 erhielt der Arzt Adolf von Strümpell den Ruf auf den Lehrstuhl für Innere Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und wurde Direktor der hiesigen Medizinischen Klinik. Obwohl Adolf von Strümpell Internist war, beschäftigte er sich auch mit zahlreichen neurologischen Erkrankungen. So war er es, der die Erkrankung HSP, ihre klinischen Merkmale, ihr Fortschreiten und ihre möglichen genetischen Ursachen als einer der Ersten weltweit beschrieb. Aus diesem Grund wird die HSP auch „Strümpell-Lorrain’sche Erkrankung“ genannt – nach dem deutschen Arzt und dem französischen Neurologen Lorrain. Im Jahr 1893 veröffentlichte Adolf von Strümpell den Fall des ersten von ihm charakterisierten HSP-Patienten in der „Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde“, die er zuvor mit drei Kollegen der Inneren Medizin gegründet hatte. „Die damaligen Arbeiten stellen mit bemerkenswert exakten klinischen Beschreibungen den Krankheitsverlauf der Betroffenen über mehrere Jahrzehnte dar, beginnend von der ersten Gangunsicherheit bis hin zum Endstadium“, berichtet PD Dr. Martin Regensburger, Leiter der Bewegungsambulanz des Uniklinikums Erlangen.

Nach anfänglicher Skepsis soll Adolf von Strümpell seine Jahre in Erlangen als die glücklichsten seines Lebens bezeichnet haben. In jedem Fall waren es seine einflussreichsten und die, die die deutsche Neurologie am meisten prägten. Bis heute erinnert die Strümpellstraße in Erlangen an die Verdienste des Mediziners. Im selben Hörsaal, in dem der HSP-Pionier vor über 130 Jahren in Erlangen lehrte, trafen sich nun mehr als 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt, um sich über die neuesten Erkenntnisse zum Krankheitsbild auszutauschen und die Ursprünge der HSP-Forschung und -Therapie in der Hugenottenstadt zu würdigen. „HSP is coming home“ lautete passenderweise einer der Programmpunkte des Symposiums.

Diagnostik und Therapie der HSP heute

„Heute stellen wir die Diagnose HSP nach einer ausführlichen Anamnese und einer eingehenden klinisch-neurologischen Untersuchung“, erläutert Prof. Winkler. „Ergänzt wird das durch Zusatzbefunde aus der Kernspintomografie, der Nervenwasseruntersuchung und durch neurophysiologische Messungen sowie durch digitale Biomarker. So schließen wir andere Ursachen aus – zum Beispiel eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems wie eine Neuroborreliose, aber auch einen Vitamin-B12-Mangel, einen Hirntumor oder andere neurologische Erkrankungen.“ Was Adolf von Strümpell im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch nicht wissen konnte, können die Expertinnen und Experten des Uniklinikums Erlangen heute belegen: „Wir kennen mittlerweile 40 Gene und 35 weitere Genorte, die mit der HSP zusammenhängen“, so Jürgen Winkler. „Gemeinsam mit dem Humangenetischen Institut des Uniklinikums Erlangen bieten wir Betroffenen und Angehörigen genetische Testungen und Beratungen an.“

Zudem wird in der Hugenottenstadt intensiv geforscht, um die Krankheitsmechanismen der HSP besser zu verstehen. Hieran sind die Stammzellbiologische Abteilung und das Zentrum für Seltene Erkrankungen Erlangen (ZSEER) des Uniklinikums Erlangen maßgeblich beteiligt. So werden u. a. aus Hautzellen von HSP-Betroffenen mittels Stammzelltechnologie patientenspezifische Zellmodelle generiert. „Mit biochemischen, neurophysiologischen und bildgebenden Ansätzen suchen wir in patienteneigenen Zellen nach krankheitsspezifischen Veränderungen in der HSP“, so Prof. Dr. Beate Winner, Leiterin der Stammzellbiologie und Sprecherin des ZSEER.

Bis heute können nur die Symptome der HSP behandelt werden, nicht ihre Ursache. „Wir versuchen, die Mobilität und die Lebensqualität der Betroffenen so lange wie möglich zu erhalten“, sagt Prof. Winkler. Hierzu werden die Patientinnen und Patienten in der Erlanger Bewegungsambulanz u. a. umfassend zu Medikamenten beraten und entsprechend versorgt. Darüber hinaus erhalten sie Beratung zu Rehamaßnahmen, Physio- und Ergotherapie, Logopädie sowie zu Ernährung, sozialmedizinischen Fragen und zur Hilfsmittelversorgung. Eine sensorbasierte Bewegungsanalyse zeigt, wie die Krankheit im Einzelfall verläuft und wie gut die gewählten Therapien anschlagen.

Weitere Informationen:

Prof. Dr. Jürgen Winkler
09131 85-39324
juergen.winkler(at)uk-erlangen.de